Auf den Spuren des Großvaters – die Geschichte einer Flucht aus Dössel

Gerald
Im April 1942 gelang zwei neuseeländischen Offizieren die Flucht aus dem damaligen Kriegsgefangenenlager Dössel. Oflag VI B war während des zweiten Weltkriegs ein Lager der Wehrmacht für kriegsgefangene Offiziere verschiedener Nationen und befand sich auf dem gleichen Gelände wie die heutige Flüchtlingsunterkunft in Dössel.
Das Ziel der beiden Offiziere war die Schweiz. 17 Tage wanderten sie Richtung Süden, meistens nachts und entlang der Autobahn, bis sie nach 450 km im Schwarzwald wieder aufgegriffen wurden. Einer der beiden, Gerald, schrieb die Erlebnisse dieser Flucht auf.
Möglicherweise war es damals Geralds Glück, dass er die vermeintlich sichere Schweiz nicht erreicht hat. Er wäre sicherlich von dort aus sofort wieder in den Kriegsdienst der britischen Luftwaffe gestellt worden, wo er seit 1939 als Pilot im Einsatz und später, nach einer Bruchlandung in Frankreich, in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war. Er hat letztlich als einziger seiner Einsatzgruppe den zweiten Weltkrieg überlebt.
Dan

Mit den Aufzeichnungen seines Großvaters im Gepäck brach genau 77 Jahre später, im April 2019, Dan, ein junger Neuseeländer, von der gleichen Stelle auf wie einst sein Opa Gerald – der heutigen Flüchtlingsunterkunft in Dössel.
Dan wanderte 17 Tage lang zu Fuß bis nach Wildberg im Schwarzwald und folgte dabei den Fluchtetappen seines Großvaters ( – allerdings lief er nicht auf der Autobahn). Er legte im Durchschnitt dabei 30 km am Tag zurück. Im Gegensatz zu Gerald und dessen Freund vor 77 Jahren war er gut ausgerüstet, hatte genug zu essen und konnte nachts in einem Bett schlafen. Außerdem musste er natürlich keine Angst vor der Begegnung mit anderen Menschen haben, die ihn vielleicht verraten oder wieder festnehmen würden. Dennoch konnte er teilweise die körperlichen und mentalen Strapazen von Gerald nachvollziehen. Dan hat seine Erlebnisse und Gedanken während der Wanderung täglich aufgeschrieben und in einem Webblog neben die Erfahrungen seines Großvaters gestellt.
Die Welt ist klein
Auch nach 77 Jahren berührt die Fluchtgeschichte von Gerald Menschen noch genauso, wie die Erlebnisse von Geflüchteten unserer Gegenwart.
Ironie der Geschichte ist, dass der gleiche Ort in Dössel, der einmal Ausgangspunkt einer Flucht war, heute dafür bestimmt ist Geflüchteten als Zuflucht zu dienen.
In Deutschland ist nur wenig bekannt, dass der zweite Weltkrieg im kleinen fernen friedlichen Neuseeland eine sehr große Rolle spielte. Als Mitglied des Commonwealth nahm es an der Seite Englands am Krieg teil und 10 % seiner Einwohner, also praktisch eine ganze Generation junger Männer, waren im Kriegseinsatz.
Dans und Geralds Geschichte kam zu mir, weil meine Tochter in Neuseeland lebt. Ein Arbeitskollege erzählte ihr davon und sie wurde hellhörig, als plötzlich der Name ihrer deutschen Heimatstadt „Warburg“ in der Geschichte auftauchte. Wie konnte das sein? – Ihr Arbeitskollege ist Dans Bruder und ebenfalls Enkel von Gerald. So schließt sich ein Kreis – einmal um die Welt und zurück!
Hier geht es zum Blog von Dan (auf englisch)
Artikel von Heidi Marquardt